Zwiegespräch

Fast ein Jahr Ausnahmezustand. Hoch und runter rauschten die Emotionen – wie in der Pubertät. Eine Zeit voller Hoffen und Ächzen, so wie bei meiner hochschwangeren Nachbarin, die schweren Schrittes die Treppen bis unters Dach nimmt, um wenig später mit ihrem Achtjährigen wieder runter zu eilen. 

Fußballspielen! Er knallt gekonnt mit der inneren Fußspitze gegen’s Leder und jubelt: Toooor. Seine Mutter steht kugelrund daneben. Ein Anblick voller Güte, wenn da nicht ihr sorgenumwölktes Gesicht wäre. 

Vom Nachbarbalkon ein Kläffen. Eine ältere Dame ruft mit spitzer Stimme ihren Schoßhund zurück in die Küche, während ihr Mann das Mittagessen kocht. Es duftet nach Curry. Duftet nach fernen Welten. Die bereiste er noch vor einem Jahr. Jetzt kocht der Senior jeden Tag voller Hingabe, hört aus dem Garten den Torjubel, hört das Kläffen seines Schoßhundes. Den Worten seiner äußerst gesprächigen Frau schenkt er längst nicht mehr die gebührende Aufmerksamkeit. Er kocht.

Mein Telefon klingelt. E-Mails fließen ein. Papier liegt auf dem Boden. Der Rücken tut weh. Im Arbeitszimmer konferiert mein Mann. Ich sitze mit meinem Laptop am Küchentisch: Homeoffice. Und ich bin nicht allein. Mein Haus spricht zu mir. Aus der Wohnung über mir kommen lästige Geräusche. Ich glaube, es läuft die Schlagerparade. Die junge Frau erzieht eigentlich hauptberuflich Kinder. Jetzt hockt sie als Single in ihrer Zweiraumwohnung – und hört Andrea Berg. Einer ihrer ältesten Titel, „Die Gefühle haben Schweigepflicht”, bekommt in diesen Tagen einen ganz anderen Sinn. 

Die Schlagersängerin scheint sich ein Battle mit der Parterre zu liefern. Von dort dringt Deutsch-Rap an meine Füße und lässt sie vibrieren. Ich denke: „Mach leise, du verpickeltes Pubertier!” Gleichzeitig weiß ich, dass das sehr unfair ist. Aber die Nerven. Ich glaube, mein Haus spricht zu mir. Da hilft nur frische Luft. Schließlich ist Spazierengehen gerade ganz hip. Und nicht zuletzt auch gut für die Seele. Lunge durchgelüftet, Kopf geleert, so kehre ich ins Haus zurück. Nicht, ohne vorher den Briefkasten zu öffnen. 

Neben mir höre ich die kesse Stimme eines Dreikäsehochs. „Ich bekomme nie Post”, erklärt er und lässt die Schultern hängen. Seine Bäckchen sind knallrot, die Augen leuchten. Er hat an der frischen Luft gespielt, sagt aber: „Mir ist langweilig. Du hast zwei Briefe. Gibst du mir einen?” Ich lache und antworte ihm, dass er nur meine Rechnungen nehmen darf. 

Neben mir kämpft seine Mama mit der Einjährigen. Die Kinder sollen zurück in die Wohnung und möchten das so gar nicht. Noch am selben Abend ziehe ich eine kunterbunte Karte aus dem Schreibtischfach, schreibe meinem kleinen Nachbarjungen und spreche zu ihm. Es ist seine erste Post! 


Katrin Fiedler, geschrieben am 22. Januar 2021.

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