Sehnsucht nach Fernost
Mit Kind und Kegel durch Asien – für ein ganzes Jahr
Das Packen nervt. Wie immer auf den letzten Drücker. Jetzt geht der Rucksack nicht zu. Also noch mal alles raus, nochmal aussortieren. Braucht wirklich jeder zwei Handtücher? Natürlich nicht. Und die Haarbürste, den Schirm, die kitschig-blauen Taucherflossen, von denen eine auch noch eingerissen ist? Nichts gegen Kuscheltiere, aber gleich vier??? Ein paar Kilo Ballast landen schweren Herzens wieder im Schrank. Drücken, fluchen, zerren am Reißverschluss – jetzt klappt's. Na also! Das Notwendigste für ein Jahr – endlich verstaut.
Wir sehen uns noch einmal in der Wohnung um. Viel steht nicht mehr drin. Fernseher, Bücher und Wertsachen wurden den Eltern aufs Auge gedrückt, machen sich dort im Heizkeller breit. Ist das Gas abgedreht? Auch der Haupthahn? Haben wir wirklich alles? Ein letztes Mal durchatmen, stiller Abschied von den heimischen vier Wänden, los geht's! Nachbarsjunge René sagt auf dem Treppenabsatz “Tschüss“, streicht sich dabei verlegen durchs Pony. Unten am Wagen warten die Eltern Letzte Ermahnungen: “Passt auf euch auf ...“ Ja, ja. Außerdem sollen wir schreiben, uns erholen und gesund wiederkommen. Wir versprechen alles. Was bleibt uns übrig ...
Glücklich und frei
Die Händedrücke sind kräftiger als sonst. Oma will die Anna gar nicht mehr loslassen, aber muss es dann eben doch, und wir winken noch mal und wir hupen noch mal und dann wird im Rückspiegel alles ganz klein: die Oma, der Opa, die Nachbarn und das Haus in Dresden-Cotta, von dem nach etlichen Besitzerwechseln gerade mal kein Mieter mehr weiß, wem es jetzt eigentlich gehört, so ein Theater. Uns ist das jetzt egal. Wir sitzen im 16 Jahre alten Golf Diesel mit seinen völlig verqualmten Polstern und den kaputten Fensterhebern (die Rucksäcke passten gerade mal so in den Kofferraum) und fühlen uns müde, erleichtert, glücklich und frei. Eine Nacht schlafen wir noch bei Freunden in Berlin, trinken in einer Kneipe am Prenzlauer Berg ein paar letzte Biere, dann ein paar allerletzte, und schließlich bekommt Ex-Kollege Gerhard die Wagenpapiere und Schlüssel für schlappe 500 Märker, ein Schnäppchen. Vom Flughafen Schönefeld aus geht unser Flieger nach Bangkok, Thailand. Ein Jahr Asien liegt vor uns. Hinter uns liegen Wochen und Monate voller Stress, Rennerei und bürokratischer Kleinkrämerei.
Palmenschule – ganz privat
Das Schlimmste war die Schule. Darf man ein achtjähriges Kind einfach für ein Jahr aus der Schule nehmen? Trotz Schulpflicht? Wir wissen es nicht, und sonst weiß es auch keiner, nicht einmal die Lehrer, die so einen Fall schließlich auch nicht alle Tage haben. Bleibt man im Ausland an einem Ort, müsste der Nachwuchs eigentlich an der dortigen Schule angemeldet werden. Was aber, wenn man rumreist, dauernd aus dem Koffer oder Rucksack lebt? Muss Anna für ein paar Wochen an eine thailändische Schule, danach – Schwupps – in eine indonesische (wo sie genauso viel verstehen würde, nämlich überhaupt nichts)? Wir rufen das Schulamt an. Eine Frau hört sich unser Problem an. „Hmm, da verbinde ich mal ...“ Ein paar Beamte später stoßen wir endlich auf offene Ohren, und alles wird gut. Ja, wenn wir versprechen, das Kind selber zu unterrichten, dann könne man schon einmal eine Ausnahme machen. „Obwohl“, erklärt uns der Schulrat, „eine genaue gesetzliche Regelung gibt es da eigentlich nicht.“ Mit Annas Klassenlehrerin vereinbaren wir eine regelmäßige Korrespondenz. Sie ist es auch, die uns mit umfangreichen Lehr- und Übungsmaterial versorgt.
Nach unserer Rückkehr muss Anna einen Test machen, darf danach – toi, toi, toi – wieder in ihre alte Klasse. Ein Problem ist gelöst!
Alles unter Dach und Fach
Eines von vielen. Da war zum Beispiel die Frage: Was geschieht mit dem zweiten Auto? Auch verkaufen? Oder lieber abmelden, stilllegen für ein Jahr? Wir erinnern uns der alten Garage von Katrins Eltern, vollgestopft mit Gerümpel aus zwei Jahrzehnten. Wir entsorgen den alten Kinderwagen, stellen die längst ausgedienten Langlaufskier an die Wand und bald passt auch schon der kleine Peugeot hinein. Für ein Jahr darf er hier verschnaufen, kostenlos versichert gegen Diebstahl, verschont vom harten Winter. Bleibt das Auto länger als ein Jahr abgemeldet, rutschen wir in der Versicherung wieder rauf. Mal abwarten!
Beim Tropeninstitut in der Friedrichstraße mussten wir mehrere Spritzen und Schluckimpfungen (igitt!) über uns ergehen lassen. Typhus, Hepatitis, Hirnhautentzündung. Malaria-Tabletten nehmen wir mit. „Wichtig ist, dass man sich gar nicht erst von den Mücken stechen lässt“, erklärt der Tropenarzt aus seinem weißen Kittel heraus. Sicher leichter gesagt, als getan. Wir gehen nochmal zum Zahnarzt (besser hier, als in der Fremde!), jedoch keine Beanstandungen, nur bei Markus war „die vier links oben“ leicht kariös, kein Problem. Auch er bekommt seinen jährlichen Bonus gestempelt. Zwischen Kistenpacken und Behördengängen treffen wir Freunde und Kollegen. Abschied auf Raten. Beim trockenen Rotwein hören wir immer wieder die gleichen Fragen: „Wo genau wollt ihr jetzt hin?“ Und: „Warum ausgerechnet Asien?“
Der andere Herzschlag
Das Wohin ist schnell erklärt: Nach Thailand, Malaysia, Indonesien. Nach Laos, Vietnam und China. Zwischendurch sicher auch nach Hongkong. Und dann vielleicht mit der Transsibirischen Eisenbahn zurück. Vielleicht aber auch ganz anders – schaun wir mal, wie's kommt. Schwieriger ist schon die Antwort auf das Warum. Wo soll man anfangen!?
Da gibt es zum einen schon ganz praktische Gründe, die vor allem in Wintermonaten Sehnsucht nach Fernost aufkommen lassen: Es ist in den meisten Gegenden angenehm warm. Die Sonne scheint oft. Die Menschen lieben Kinder über alles. Beinahe stündlich gehen in Asien allerorten Busse, Züge, Flieger und Schiffe, erreichen auch den abgelegensten Winkel einer Region. Und verglichen mit Deutschland sind die Preise recht niedrig. Doch das ist es natürlich nicht allein, nicht einmal in erster Linie. Aber was dann?? In Asien schlägt das Herz scheinbar in einem anderen Rhythmus. Statt Hast stoischer Gleichmut. Statt ernster Gesichter: hundertfaches Lächeln – für jede Situation eines.
Asien, das ist auch das Geld und die Macht auf der einen, spartanische Bambushütten und viele kleine, schmutzige Rotznasen ohne Zukunft auf der anderen Seite. Protz und Elend. Gelächelt wird dennoch. Ob der buddhistische Mönch im laotischen Berg-Kloster, der Börsenmakler in Hong Kong oder die Prostituierte im thailändischen Pattaya. Ob die verschleierte Frau eines ost-malaysischen Moslems oder der indische Gastarbeiter beim Betreten seines hinduistischen Tempels, selbst die katholischen Missionare in den indonesischen Bergen. Sie alle machen die Exotik Asiens aus: die Vielfalt! Das Unterschiedliche und Andersartige! Aber eben auch das Lächeln und die Ruhe und die tiefe Genügsamkeit und Selbstzufriedenheit, die sich wie ein Mantel um die verschiedenen Kulturen legt und sie alle scheinbar eint. Asien ist ein Kontinent der Veränderungen. Bis vor kurzem noch die am schnellsten wachsende Wirtschaftsregion der Welt, begannen jetzt die Länder auf dem internationalen Finanzmarkt zu straucheln. Aus einstigen Musterknaben wurden über Nacht Sorgenkinder der Weltbank. Bitter für viele, tragisch für manche, auf alle Fälle nicht ohne Spannung. Gleiches gilt für die Politik. Die oft nur mit harter Hand und meist durch autokratische Strukturen zusammengehaltenen Gesellschaften japsen nach Luft: Der Ruf nach mehr Demokratie wird immer lauter. Es riecht nach bewegten Zeiten ...
Klartext Asien
Dieser Kontinent hat viele Gesichter und viele Geschichten. Einige davon wollen wir – jede Woche an dieser Stelle – erzählen. Von unserer Reise, vor allem aber von den Menschen, die uns dabei begegnen werden. Geschichten zum Staunen, Schmunzeln und Nachdenken. Geschichten von einem Kontinent, der eben anders ist ...
© Katrin Fiedler: geschrieben und fotografiert am 25. April 1998